Und ein Weib, das ein Kind an der Brust hielt, sagte:
"Rede uns von den Kindern."
Und er sprach also: Eure Kinder sind nicht eure Kinder.
Es sind die Söhne und Töchter von des Lebens Verlangen nach sich selber.
Sie kommen durch euch, doch nicht von euch;
Und sind sie auch bei euch, so gehören sie euch doch nicht.
Ihr dürft ihnen eure Liebe geben, doch nicht eure Gedanken,
Denn sie haben ihre eigenen Gedanken.
Ihr dürft ihren Leib behausen, doch nicht ihre Seele,
Denn ihre Seele wohnt im Hause von Morgen, das ihr
nicht zu betreten vermöget, selbst nicht in euren Träumen.
Ihr dürft euch bestreben, ihnen gleich zu werden, doch suchet nicht, sie
euch gleich zu machen.
Denn das Leben läuft nicht rückwärts, noch verweilet es beim Gestern.
Ihr seid die Bogen, von denen eure Kinder als lebende Pfeile entsandt
werden.
Der Schütze sieht das Zeichen auf dem Pfade der Unendlichkeit, und Er
biegt euch mit Seiner Macht, auf dass Seine Pfeile schnell und weit fliegen.
Möge das Biegen in des Schützen Hand euch zur Freude gereichen;
Denn gleich wie Er den fliegenden Pfeil liebet, so liebt Er auch den Bogen,
der standhaft bleibt.
Aus: "Der Prophet", Kahlil Gibran
Das Thema Ablösung wird
nicht erst kurz vor dem Auszug des Sohnes/der Tochter aus dem Elternhaus
akut und ist auch nicht verarbeitet und abgeschlossen, wenn der Sohn oder
die Tochter in einer Wohngruppe wohnen und sich dort wohl fühlen.
Auch langjährige erfahrenen "Wohngruppeneltern" erleben immer wieder Aktualisierungen
von längst bewältigt geglaubten Ablöseproblematiken. Dieses ist nur zu
verständlich, sieht man die Ablösung nicht als eine Phase, die es hinter
sich zu bringen gilt, sondern als komplizierten, interaktiven lebenslangen
Prozess. Diesen durchleben alle Menschen, die meisten im Laufe ihres Lebens
auch in unterschiedlichen Rollen, z.B. einmal als "Heranwachsender" in
der Ablösung von der eigenen Ursprungfamilie und Jahre später in der Elternrolle
aus der anderen Perspektive. Sogenannte Erfahrungswerte, und Schlagworte,
wie Generationskonflikt füllen sich für jeden Einzelnen mit seinem individuell
"familiengeschichtlich" erlebten Inhalt.
Die psychische Ablösung also das Gewähren von stetig wachsenden Freiräumen
zur Entwicklung und Erprobung der eigenen Persönlichkeit, beginnt schon
nach der Geburt. Die besondere Situation einer Familie mit einem Kind
mit geistiger Behinderung erschwert den Ablöseprozess jedoch nicht unerheblich.
Oft bestimmen Ängste und Unsicherheiten jahrelang den Umgang miteinander
und benötigen ein hohes Maß an Energie und Kraft zu ihrer Bewältigung.
Auf Erfahrungen zum Leben mit einem behinderten Kind aus der eigenen Familie
oder der näheren Umgebung kann in der Regel nicht zurückgegriffen werden.
Durch die psychische und zeitliche Belastung bleibt den Eltern oft wenig
Raum für Kontakte zu anderen Menschen oder außerfamiliären Aktivitäten,
so dass es, bedingt durch fehlende Außenreize, zu wenig alternativen Sichtweisen
der Familiensituation kommen kann.
Nachdem sich das Familienleben einigermaßen eingespielt hat, kommt es
im Zuge der Pubertät der Söhne und Töchter mit Behinderungen zu einer
erneuten Verunsicherung der Eltern.
Die Konfrontation mit den verschiedenen Formen von Ablösesignalen und
ausgeprägten Bedürfnissen, auch im Hinblick auf Sexualität und Partnerschaft
(verbunden mit eigenen Unsicherheiten und Ängsten in bezug auf die Zukunftsgestaltung),
lässt das Erwachsenwerden der Kinder und die damit zusammenhängenden Gedanken
an eine Ablösung für die Eltern zu einer weiteren Krisensituation der
Bewältigung der Behinderung werden. Erneut werden psychische Ressourcen
benötigt, um die/den heranwachsende/den Tochter/Sohn in seinem Erwachsenwerden
zu unterstützen und zu begleiten.
Eltern erleben die Ablösung ihrer Kinder, die fortlaufend selbständiger
werden und schließlich verlangen, "freigelassen" zu werden, als belastende
Lebenssituation. Für die Eltern eines erwachsenen Sohnes oder einer Tochter
mit geistiger Behinderung kommt noch ein erschwerendes Moment hinzu. In
der Regel kann sich der Mensch mit geistiger Behinderung nicht selbständig
vom Elterhaus lösen und braucht hierzu die Unterstützung der Eltern.
Während den Eltern bei der Ablösung eines nichtbehinderten Kindes oft
gar nichts anderes übrig bleibt, als die Einwicklung anzunehmen, muss
dieser schmerzhafte Prozess beim Sohn oder Tochter mit Behinderung selbst
eingeleitet werden.
Die Schwierigkeit dieser Aufgabe liegt auf der Hand und die Versuchung,
vielleicht wenigstens eines der Kinder festzuhalten, ist durchaus verständlich,
für die weitere Entwicklung der Persönlichkeit des erwachsenen Menschen
mit Behinderung jedoch katastrophal.
Eltern bieten wir in unseren Seminaren bezüglich der geschilderten Problemstellungen,
aber auch im Hinblick auf Alltagsablöseprobleme einen Rahmen, um sich
mit anderen betroffenen Eltern durch Gespräche, Austausch und Reflexion
gemeinsam dem Problem zu nähern und neue Handlungskompetenzen zu entwickeln.
Wichtig in diesem Zusammenhang ist nicht nur die Darstellung eigener Problempunkte,
sondern auch die Möglichkeit, andere Sichtweisen kennen zu lernen und
eigene Alternativen zu überlegen. Auch stehen nicht nur die Erwartungen
der Söhne und Töchter im Blickpunkt der Betrachtungen, sondern im besonderen
Maße auch die Bedürfnisse der Eltern. Gerade im Zusammenleben mit einem
Angehörigen mit geistiger Behinderung ist die eigene Person für lange
Zeit in den Hintergrund getreten. Dies kann sich ändern, wenn der Auszug
der Tochter oder des Sohnes auch als Ablösung vollzogen wird. Sich selber
wieder zum Mittelpunkt der eigenen Aufmerksamkeit zu machen ist ein spannender
Prozess, der nicht immer einfach ist, aber Wege öffnen kann zu bisher
ungelebten Möglichkeiten, die vielleicht schon immer nach Verwirklichung
sich sehnten.
Liebe Mütter und Väter,
vielleicht wundert Sie diese etwas vertrauliche Anrede und Ihre Irritation
ist nachvollziehbar, denn Mutter- bzw. Vater- sein ist nur ein Teilaspekt
Ihrer Gesamtpersönlichkeit.
So gibt es verschiedene Rollen z.B. berufstätig sein, Hausfrau/mann sein,
Arbeitskollege/kollegin sein, Tochter/Sohn sein, Nachbar/in sein, Freund/in
sein etc. im Erwachsenenleben. Doch gerade als Mutter und Vater eines
Sohnes/einer Tochter mit geistiger Behinderung nimmt die Elternrolle viel
Platz eine und benötigt beständig Energien, die für das Er-(Aus) leben
anderer Rollen fehlen können.
Die Vorstellung permanenter Elternschaft, also die Belastung, sein Leben
lang in gleicher Anspannung und mit hohem Einsatz die Rolle Mutter und
Vater ausfüllen zu müssen, war bislang im Vergleich zu Eltern von nichtbehinderten
Kindern, die nach der Ablösung wieder eigenen Interessen nachgehen können,
ein Teil der Lebensaufgabe (im Sinne eines persönlichen Schicksals, das
zu bewältigen ist).
Heute ist die Sichtweise eine andere, denn es gilt auch im Interesse der
Tochter/des Sohnes möglichst frühzeitig eine Wohn- und Lebenssituation
außerhalb des Elternhauses anzustreben. Dieses gilt nicht nur, um die
Eltern zu entlasten, sondern insbesondere, um den erwachsenen Söhnen und
Töchtern ein möglichst erwachsenes und selbstbestimmte Leben mit persönlichen
Freiräumen und Freunden zu ermöglichen.
Diese Sichtweise ist vom Verstand her sicherlich zu begrüßen. Doch die
Entlastung, die dieser Schritt bringen könnte, ist im Vorfeld von vielen
Bedenken, Ängsten und Hilflosigkeit begleitet.
Wird es meiner Tochter/meinem Sohn in der neuen Wohnsituation auch
gut gehen? Bekommt er/sie die Dinge und Bedingungen, die er/sie nach meiner
jahrelangen Erfahrung braucht?
Werden die Betreuer/innen meinen Sohn/meine Tochter in ihrem Anderssein
annehmen und ihm/ihr die nötige Wärme und Geborgenheit geben?
Kann ich meine Tochter/meinen Sohn in dem Sinne weiterbegleiten, wie ich
mir das vorstelle?
Wird meine Bedeutung als Mutter/Vater von der Einrichtung anerkannt und
geschätzt?
Werde ich mich mit den Betreuer/innen, die ja fast alle um einiges jünger
sind als ich, austauschen können und verstanden fühlen?
Sind wir schlechte Eltern, wenn wir zulassen, dass unser Sohn/unsere Tochter
auszieht?
Ist es möglich, dass ich mich ohne ein schlechtes Gewissen zu haben mehr
um mich kümmere?
Das Seminar bietet die Möglichkeit diese und andere Fragen,
Gedanken, Gefühle und Erlebnisse, die sich aus dem Zusammenleben mit einer
Tochter oder einem Sohnes mit Behinderung ergeben, mit anderen Eltern
auszutauschen.
Zielgruppe:
Eltern von Menschen mit einer geistigen Behinderung