"Sterbebegleitung als Teil einer ganzheitlichen Lebensbegleitung"
Die Vermittlung der Themen Sterben, Tod und Trauer an Mitarbeiter/innen
in Wohneinrichtungen für Menschen mit geistiger Behinderung, deren Eltern
und Angehörige.
Denn,
Sinnen auf den Tod,
ist Sinnen auf Freiheit.
Wer Sterben gelernt hat,
versteht das Dienen nicht mehr.
(Montaigne)
Seit vier Jahren bieten wir Fortbildungen und Seminare
zu den Themen Sterben, Sterbebegleitung, Tod und Trauer (Sterben als ein
Teil des Lebens) an. Adressaten unserer Seminare sind Mitarbeiter/innen
aus der Arbeit mit Menschen mit geistigen Behinderungen, aber auch Eltern
und Angehörige.
Doch schon vor dieser Zeit haben wir uns beide, unabhängig voneinander,
intensiv mit dem Thema Sterben und Tod auseinandergesetzt. Gemeinsam war
uns ein emotionaler Zugang zu dem Thema (motiviert über die persönliche
Betroffenheit). Aus der Auseinandersetzung, die irgendwann einmal wichtig
zur Bewältigung eines Verlustes war, ist ein Lebensthema geworden. Ein
Thema, das uns mal wie ein Freund begleitet, mal wie ein Fremder verfolgt.
In der Begegnung treffen wir unsere tiefen Ängste vor der Vergänglichkeit,
vor dem Tod und somit auch immer vor dem Leben.
Wollen wir tiefere Dimensionen unseres Lebens erfassen, führt der Weg
zum Verständnis des Lebens immer über die Auseinandersetzung mit dem Tod.
Das Thema ruft auf der einen Seite einen Sog und eine Faszination aus,
denn niemand weiß genau, wie Sterben und Tod sich anfühlen, auf der anderen
Seite, die Befürchtung des Kontaktes mit tiefen existentiellen Ängsten,
verbunden mit dem Drang und auch der Abwehr, diesen zu begegnen.
Unsere Grundhaltung zur Bearbeitung von Sterben, Tod und Trauer in Seminaren
ist nicht, zu wissen, und zu vermitteln, wie es geht, sondern mit dem,
was die TeilnehmerInnen mitbringen, zu gucken, wie es vielleicht gehen
kann und was dahinter steht.
So kann es uns gar nicht darum gehen, Antworten oder Rezepte für die Auseinandersetzung
oder den realen täglichen Umgang mit den Themen zu vermitteln, sondern
eher darum, Fragen aufzuwerfen und sich über das emotionale Erleben im
eigenen Tempo zu nähern.
Die Lernenden und Erkennenden sind nicht nur die TeilnehmerInnen, sondern
auch wir als Teil der Gruppe.
Wir sehen uns in keinem Fall als Spezialistinnen, sondern an dem Thema
Interessierte, mit der Intention, das Thema bei uns und andern wachzuhalten,
wobei das Erkenntnisinteresse noch lange nicht immer die führende Kraft
in der Auseinandersetzung darstellt. Wer sich intensiv mit dem Tod und
die ihn begleitenden Phänomenen beschäftigt und dies nicht nur auf intellektueller
Ebene, wird zwangsläufig feststellen können, dass hierin immer wieder
eine tiefe und intensive Lebensfreude zum Vorschein kommt. Als müssten
wir uns als Menschen immer wieder ins Dunkel begeben, um das Licht sehen
zu können.
Dies soll nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Tod auch seine schrecklichen,
Leid verursachenden und nicht nachvollziehbaren Seiten hat.
Inhaltliche Schwerpunkte
Du kannst nicht wählen wie du sterben willst
oder wann.
Du kannst nur beschließen wie du leben willst.
Jetzt.
(Joan Baez)
In unseren Seminaren schlagen wir den Bogen, vom Leben
zum Sterben und wieder zum Leben zurück. Unterwegs begegnen uns Veränderungen
im Leben, wie biographische Einschnitte und individuelle Krisen oft auch
als kleine Tode.
Wir betrachten diese Gesetzmäßigkeiten im Leben, sowohl aus der individuell
persönlichen Sicht, als auch in der Identifikation mit dem Erleben der
Bewohner/innen.
Als Symbol unserer Arbeit hat sich im Laufe der Zeit die Spirale herausgebildet,
sie versinnbildlicht die menschliche, phasenhafte, individuelle Entwicklung
mit unterschiedlichem emotionalem Erleben und unterschiedlichem Tempo.
Eine Gemeinsamkeit für alle Menschen ist, dass sich im Laufe der persönlichen
Entwicklung alte Muster und Phasen wiederholen, das wir quasi im Sog und
Verlauf des Lebens nicht an uns vorbeikommen, sondern immer weitere Ringe
schlagen.
So bewegen wir uns im Grunde spiralförmig durchs Leben.
Und
entwickeln
uns nur dadurch
weiter, dass wir immer
wieder aus unterschiedlichen
Perspektiven, in unterschiedlichen
Situationen unseren Ängsten, Schwächen,
Schattenseiten und blinden Flecken
begegnen. Und uns mit diesen
in den unterschiedlichsten
Lebenssituationen
neu beschäftigen
müssen.
Oft erscheint es sogar, als gäbe es keine Entwicklung,
da die gleichen Probleme doch immer wieder auftauchen. Doch Entwicklung
findet auf alle Fälle statt, sie vollzieht sich nur eben ganz langsam.
Wie ein Baum auch nur ganz langsam wächst, wächst er doch, oft wird
dies erst Jahre später wirklich sichtbar, bei uns selbst, wie auch bei
den Bewohnern/innen.
Soweit dies in unserem Rahmen möglich ist, bieten wir den Teilnehmern/innen
an, sich in begleiteter Form existentiellen Ängsten zu nähern, welche
in der Auseinandersetzung mit der Vergänglichkeit zwangsläufig aktiviert
werden.
Auf dieser Folie beschäftigen wir uns mit folgenden Inhalten unter Berücksichtigung
der besonderen Situation des Lebens und Sterbens in einer Wohnstätte:
1. Krisen während des Lebens und deren Verarbeitung
2. Phasen des Sterbens
3. Wahrheitsvermittlung als Prozess
4. Trauer, ihr Verlauf und dessen Begleitung
5. Offene Fragen
1. Krisen während des Lebens und deren Verarbeitung
Verluste jeder Art sind die
Hauptauslöser für Krisen
(Verena Kast)
Wie werden folgende Wandlungen, Veränderungen, Krisen,
Umbrüche, Übergänge in neue Lebensphasen und Verluste der Bewohner/innen
in der Wohnstätte gesehen und begleitet.
- Einzug der Bewohner/innen und Abschied von den Eltern
- Auszug oder Umzug der Bewohner/innen
- Trennung und Abschied von Mitarbeiter/innen und Bezugspersonen
- Trennung von Partnern und Freunden
- Psychiatrie und Krankenhausaufenthalte
- Ruhestand · Wechseljahre
- Alter und Vitalitätsverlust
- Krankheit
- Evtl. mit Krankheit einhergehende Desorientierung
- Wunsch nach Generativität (Kinderwunsch)
- Konflikte innerhalb der Wohnstätte
- Umstrukturierungen innerhalb der Einrichtung
- Angewiesensein auf das Leben in einer Institution
- Krankheit und Tod von nahestehenden Menschen, z.B. der Eltern
- Abschied von Träumen und Illusionen
usw.
2. Phasen des Sterbens
Trotz der Individualität jedes Todes und jedes Lebensendes
gibt es Gemeinsamkeiten im Verlauf dieses Prozesses, der ebenfalls an
die Spirale erinnert, bzw. als Spirale dargestellt werden kann.
In unseren Seminaren vermitteln wir Wissen über Sterben und Tod, deren
prozesshaftem Verlauf, das Teils aus eigener Erfahrung und andererseits
Wissenschaftler in jahrelangem engen Kontakt zu sterbenden Menschen
zusammengetragen haben. Dieses Wissen kann jedoch stets nur dem besseren
Verständnis unseres Gegenübers dienen. Es kann nie handlungsleitend
angewandt werden, denn hier können immer nur die individuellen Bedürfnisse
des sterbenden Menschen richtungsweisend sein, er gibt uns den Weg vor.
Diese Bedürfnisse zu erkennen und sensibel zu begleiten setzt eine Bewusstheit
für eigene Befindlichkeit und Ängste voraus, die eine hohe Empathie
und Echtheit erst möglich macht. Sterbebegleitung ist intensives Erleben
und Gestalten von Beziehungen. Das Wissen darum, dass der sterbende
Mensch uns den Weg weist und genau weiß, was in welcher Situation für
ihn richtig ist, entlastet die enorm, die einen Menschen in seinem Sterbeprozess
begleiten. Denn hier wollen die Beteiligten doch alles richtig machen.
Die intensive Begleitung besteht eher darin, sich vertrauensvoll der
Führung des zu Begleitenden hinzugeben und weniger darin, aktiv zu gestalten.
Mehr als in allen anderen Lebens- und Arbeitssituationen setzen wir
uns hier unserer eigenen Vergänglichkeit aus. Diese Grenzerfahrung können
Mitarbeiter/innen nur wagen, wenn sie sich freiwillig dazu entschließen
und sich sowohl von den Kollegen/innen als auch von der Institution gestützt
fühlen. Dabei spielt es natürlich eine entscheidende Rolle, ob es in
der Einrichtung atmosphärisch und strukturell möglich ist, Grenzen der
persönlichen Belastbarkeit wahrzunehmen und zu äußern und ob diese ernst
genommen und aufgefangen werden. ("Darf ich sagen, dass ich nicht mehr
kann?")
Die Grundlagen hierfür werden nicht erst in einer Extremsituation wie
einer Sterbebegleitung gelegt, sondern entwickeln sich mit den Menschen,
die in einer Wohnstätte leben und arbeiten, in der alltäglichen Begleitung
von Schwierigkeiten, die Menschen für sich und mit anderen haben können.
Vor diesem Hintergrund ist es grundlegend wichtig zu berücksichtigen,
dass sich innerhalb eines Teams nicht jeder zu einer Sterbebegleitung
bereit erklären muss, gerade hier kann sich jeder nach seinen Möglichkeiten
engagieren oder auch zurückhalten. In derart schwierigen Situationen
dürfen auf keinen Fall Mitbewohner/innen aus den Augen verloren und auch
nicht zwanghaft vom Geschehen fern gehalten werden. Ihnen Alltag zu
ermöglichen und dabei, wenn gewünscht, den sterbenden Mitbewohner auf
ihre Art und Weise begegnen und begleiten zu können ist sowohl alltäglicher
Ausdruck der eigenen Haltung und des Menschenbildes, als auch in der
Wahrnehmung, wie Bewohner/innen uns ein Vorbild an Echtheit sein können,
eine Herausforderung.
Was brauche ich als pädagogische Mitarbeiter/in, damit ich mich auf
eine Sterbebegleitung einlassen kann?
- von mir selbst
- von meinen Kollegen/innen
- von der Institution
- von anderen unterstützenden Systemen
3. Wahrheitsvermittlung als Prozess
Häufig wird als besonders belastenden Moment einer Sterbegeleitung
die Frage des ob, wann und wie der Wahrheitsvermittlung (Diagnose, noch
verbleibende Lebenszeit) genannt. Gerade in dieser Hinsicht entsteht
oft aus Angst, Hilflosigkeit und einem eigenartigen Verständnis von
Rücksichtnahme eine tiefe Einsamkeit und Leere in der Beziehung zwischen
dem sterbenden Menschen und seinen Bezugspersonen.
Der Sterbende bleibt dann mit seiner größten Angst, nämlich vorm Sterben
und dem Tod gänzlich allein.
Du sollst dem anderen die Wahrheit nicht wie einen nassen Lappen
um die Ohren knallen,
sondern behutsam im Kontakt wie einen Mantel hinhalten,
in den er nach seinem Tempo hineinschlüpfen kann,
und dabei von Dir gehalten wird.
(M. Frisch leicht modifiziert)
Wahrheitsvermittlung ist also nicht ein Moment, eine Gesprächssituation,
sondern ein Prozess im gemeinsamen, ehrlichen Kontakt.
In diesem Prozess haben auch die Gefühle der Begleiter/innen einen wichtigen
Platz und ihre Berechtigung.
Wahrheit ist also nicht die Mitteilung einer Diagnose, sondern der Mut
zu einer intensiven und echten Beziehung, die auch existentielle Gefühle
nicht ausspart.
Erlebte Wahrheit im Kontakt spielt nicht erst am Lebensende eines Menschen
eine bedeutende Rolle, sondern ist ein lebenslanges Bedürfnis. In dem
Sinne, dass einer stirbt, wie er gelebt hat, gibt es auch Menschen,
die ihre "Diagnose" gar nicht wissen wollen und bis zum Ende nicht in
der Lage sind, über die "Wahrheit" zu sprechen, und dennoch ihren Weg
würdevoll bis zum Ende gehen. Und wir als Begleiter/innen müssen auch
dies respektieren.
Wie erlebe ich mich im Kontakt zu Bewohner/innen und Kollegen/innen?
Kann ich Ängste, Schwächen und Unsicherheiten ausdrücken und die der
Anderen aushalten und annehmen?
4. Trauer, ihr Verlauf und deren Begleitung
Trauer ist universell.
Und zugleich ist sie
zutiefst persönlich.
(Grollmann)
Trauer und Tod gehören zum Leben. Beides kann man keinem Menschen ersparen,
so wie man auch niemandem das Leben ersparen darf.
Trauer ist das Aushalten einer schmerzlichen Grundwahrheit des Lebens,
nämlich mit dem sicheren eigenen Tod, sie ist nicht nur Abschied von
den Verstorbenen, sondern auch ein antizipierter Abschied von der Welt.
Und doch ist Trauer viel alltäglicher als es auf den ersten Blick aussieht,
denn es gibt im Leben viele Krisen und somit Trauermomente, die es zu
bewältigen gilt.
So ist Trauer eine natürliche Emotion des Lebens mit der gleichen Berechtigung
wie Heiterkeit, Wut etc., die uns ein Leben lang begleitet.
Dürfen die Bewohner/innen diese grundlegenden Emotionen erleben und
ausleben?
Halten wir das aus?
Wie stehen wir zu unseren eigenen Empfindungen der Trauer?
Wie können wir die Trauer Anderer begleiten?
5. Offene Fragen
Sterben?! - Kann (jederzeit) und wird (auf jeden Fall) passieren.
Eine Auseinandersetzung mit dem Thema Sterben und Tod bedeutet nicht
nur eine Vorbereitung auf eine mögliche Sterbebegleitung, sondern auch
eine persönliche Auseinandersetzung mit eigenen Sinnvorstellungen und
im Laufe des Lebens erworbenen Bildern und Annahmen. (Bin ich beispielsweise
religiös, oder versuche ich den Lebens- und Sterbeprozess rein biologisch
zu betrachten?)
Offene Fragen, wie zum Beispiel: was passiert nach dem Tod, können beunruhigen
und ängstigen.
Ebenso die Unsicherheit über den Zeitpunkt und Ablauf unseres eigenen
Todes. Das Leben mit diesen unbeantworteten Fragen bleibt zu bewältigen
und bleibt uns leider (?), oder Gott sei Dank (?), nicht vorenthalten.
Gerade in der Arbeit mit Menschen mit geistiger Behinderung kann es
zu gänzlich neuen und bereichernden Erfahrungen kommen, wenn die sonst
oft als omnipotent erlebten Mitarbeiter/innen eingestehen, dass sie auf
bestimmte Fragen einfach keine Antworten haben und sich gemeinsam mit
den Bewohner/innen auf die Suche nach individuellen Vorstellungen machen.
- Gibt es ein Leben nach dem Tod?
- Wie sieht der Himmel aus?
- Sieht der Verstorbene mich noch?
- Hört der Verstorbene mich, wenn ich mit ihm rede?
- Hat der Tote keine Angst im Grab?
Methodik
Mit unserer Methodik berücksichtigen wir den Spagat,
der in einer realen Sterbebegleitung praktiziert werden muss. Der Spagat
zwischen den Gefühlen, Bedürfnissen und Ängsten aller beteiligen Personen,
der nur auf dem Hintergrund des Wissens um eigene Ängste zu bewerkstelligen
ist.
Wenn eigene Emotionen gesehen und angenommen werden können, fällt es
leichter, die Bewohner/innen in ihren Ängsten und Nöten zu verstehen
und zu unterstützen.
Widerstände und Abwehr in Bezug auf die eigenen Ängste äußern sich häufig
in einer vermeidenden Haltung gegenüber den intensiven Gefühlen der
Bewohner/innen. Gefühle machen nämlich Angst, insbesondere wenn sie erst
einmal fremd sind. Hier braucht es sowohl in der praktischen Arbeit,
als auch im Seminar Modelle, die helfen Ängste auszudrücken, um sie
besprechbar und so verarbeitbar zu machen. Damit werden sie real, überschau-
und fassbar und sind nicht mehr so nebulös und bedrohlich, wie ein dicker
Klumpen im Bauch oder ein Kloß im Hals.
Beim Ausdrücken von Gefühlen helfen:
- Bilder, freies Assoziieren
- Identifikation über Rollen in Filmen und in Geschichten
- Metaphorisches Arbeiten
- Kreative Methoden, Malen, Musik, Körperarbeit
- Arbeit mit Photos
- Gedichten
Zum Leben und zum Sterben in einer Wohnstätte
für Menschen mit geistiger Behinderung
Mitarbeiter/innen in Wohnstätten haben es in Grenzsituationen
oft besonders schwer, da sie häufig mit den Ängsten (nicht etwa dagegen)
anderer Menschen (Angehörige, Kollegen/innen, Leitung, gesetzliche Betreuer/innen,
Ärzte, etc.) arbeiten müssen und dies obwohl sie sich selber unsicher
sind. Gegen die Ängste der Anderen die Bedürfnisse der Bewohner/innen
zu vertreten und ihnen Lebenssituationen, auch wenn sie schwer sind,
zuzutrauen und mit aller Konsequenz zu begleiten ist alles andere als
einfach und erfordert Möglichkeiten zum Innehalten und vertrauensvolle
Partner zum Reflektieren.
Auffallend oft wird auch erwachsenen Menschen mit geistiger Behinderung
nicht zugetraut mit Sterben und Tod umzugehen. Dies sowohl in Fällen
in denen sie selber von schwerer Krankheit oder Tod betroffen sind oder
auch wenn es um ihre nächsten Familienangehörigen geht, die im Sterben
liegen. Wir behaupten etwas plakativ, dass alle Welt sie von der Wahrheit
oder den sterbenden Angehörigen möglichst weit fernhalten will. So will
der gesetzliche Betreuer nicht, dass die Krankheit, die der 60 jährige
Mann hat, Krebs heißt und die Operation evtl. auch tödlich enden kann.
Sterbende Eltern sollen auf Anraten der Geschwister auf keinen Fall
im Krankenhaus besucht werden. Beerdigungen zu besuchen, auch wenn es
sich um die Mutter oder den Vater handelt, bedeutet eine zu große Aufregung
für den fassungslos zurückbleibenden Sohn. Und nicht zuletzt werden
Menschen mit Behinderungen in Grab- oder Trauerreden nicht erwähnt,
da ihnen Trauer nicht zugestanden oder zugetraut wird. Um nicht falsch
verstanden zu werden, dies alles geschieht mit den besten Absichten,
mit den Absichten, den Menschen mit Behinderungen zu schützen. Doch
in dem Maße, wie versucht wird, den Menschen vor dem Tod zu schützen,
wird ihm eine Auseinandersetzung mit selbstverständlich auch für ihn
existentiellen Gefühlen und Fragen verwehrt. Denn ein langsames Herantasten
an den Tod, ein langsames Abschiednehmen können, erleichtert häufig
das Akzeptieren des Todes. Wie viel schwerer ist es, einen plötzlichen,
unerwarteten Tod zu begreifen oder gar zu akzeptieren und in sein Leben
zu integrieren. Und genau dies wird von Menschen mit geistiger Behinderung
verlangt, ihnen wird mitgeteilt, dass ihre Mutter, ihr Vater oder der
Bruder gerade gestorben sind und die Beerdigung war auch schon.
Vorenthalten des Todes bedeutet auch Vorenthalten des Lebens.
Hier liegt die ganz besondere Aufgabe von Mitarbeiter/innen in Wohneinrichtungen
für Menschen mit geistiger Behinderung, ihnen, die Auseinandersetzung
und die Konfrontation mit dem eigenen oder dem Sterben und dem Tod anderer
nicht vorzuenthalten, sondern zu ermöglichen, Sie, die Bewohner/innen
gegen die Ängste der Umwelt zu unterstützen und ihren Bedürfnissen zum
Ausdruck zu verhelfen. Konfliktlos werden diese Auseinandersetzungen
nicht geführt werden können.
Ängste gibt es nicht nur bezogen auf eine Sterbebegleitung, sondern
auch, nachdem der Tod eines Menschen eingetreten ist, wichtige Dinge
zu vergessen. Auf die besondere Bitte eines Wohnstättenteams haben wir
folgende Gedanken für den Todesfall einer BewohnerIn einer Wohnstätte
zusammengestellt
Was ist zu tun, wenn jemand gestorben ist
Auch wenn die eingetretene Situation sehr verunsichert
und Angst macht, muss nicht überstürzt gehandelt werden. 36 Stunden
stehen zur Verfügung bis der oder die Verstorbene abgeholt sein muss.
Stirbt der Bewohner im Krankenhaus, so gibt es auch dort für Mitbewohner/innen,
Angehörige und Mitarbeiter/innen die Möglichkeit, sich in Ruhe zu verabschieden.
Jedes Krankenhaus hat einen Abschiedsraum.
Mitbewohner/innen:
Gibt es Mitbewohner/innen im gleichen Zimmer, so sind diese mit den notwendigen
Erklärungen und der Bitte um Verständnis sofort in ein anderes Zimmer
zu begleiten.
Arzt:
Handelt es sich um einen plötzlichen unerwarteten Tod, ist es nötig
sofort einen Arzt zu rufen, vorzugsweise den Hausarzt. Es gibt auch
die Möglichkeit einen Arzt über die Feuerwehr (112) zu rufen, diese
können wenn gewünscht, auch einen Notfallseelsorger dazu holen. Dabei
bitte von einem "Bewohner im lebensbedrohlichen Zustand" sprechen und
nicht die Eigendiagnose "Todesfall oder verstorben" benutzen.
Sollte es sich um einen lang erwarteten Tod handeln, ist die sofortige
Ausstellung des Totenscheines nicht ganz so dringend.
Aufgabenverteilung:
Egal zu welchem Zeitpunkt ist es wichtig, mindestens eine weitere Kollegin
und die Wohnstättenleitung dazu zu rufen.
Die Wohnstättenleitung kann alle Aufgaben übernehmen, die nicht direkt
mit dem Verstorbenen und den Bewohner/innen zu tun haben, wie z.B.
Angehörige und gesetzliche Betreuer/innen verständigen und deren evtl.
gewünschte Anreise organisieren.
Hierzu sollte es eine Liste geben, auf der alle Personen aufgeführt
sind, die im Todesfall benachrichtigt werden wollen. Darauf sollte vermerkt
sein, ob sie auch mitten in der Nacht informiert werden wollen.
Mit den dazukommenden Kollegen/innen muss abgestimmt werden, wer welche
Aufgaben übernimmt.
Wer kümmert sich um die Verstorbene selber, um die Herrichtung des Raumes
und die Begleitung während sich andere verabschieden, wer um die Angehörigen.
Wer legt seinen Schwerpunkt auf die anderen Bewohner/innen, deren Versorgung
und Begleitung in der Aufnahme der Todesnachricht.
Die/der Verstorbene
Wenn die Augen der/des Verstorbenen noch nicht geschlossen
sind, sollten diese geschlossen werden. Das Kinn kann mit einem Kissen
unterstützen werden, damit der Unterkiefer nicht runterfällt.
Es muss überlegt werden, ob die Mitarbeiter/innen den Verstorbenen selber
waschen und herrichten wollen, oder dies dem Beerdigungsinstitut überlassen
werden soll.
Es ist sicherlich gut der/dem Toten ein wenig Zeit zu lassen und hier
nicht in hektische Betriebsamkeit zu verfallen.
Die Herrichtung darf aber auch nicht zu lange hinausgezögert werden,
da nach ca. 8 bis 9 Stunden die Totenstarre eintritt.
Herrichten des Raumes
Es ist für alle schöner, wenn der Raum würdevoll gestaltet
wird. Eine Duftlampe und mehrere Kerzen im Raum verteilt, schaffen eine
ruhige, entspannte Atmosphäre.
Verabschiedung
Neben den Angehörigen und Freunden sollten alle Bewohner/innen
und Kollegen/innen die Möglichkeit haben, sich zu verabschieden.
Angehörige
Der Tod ist eine sehr intime und familiäre Angelegenheit.
Dementsprechend haben die Angehörigen auch ein berechtigtes Interesse
über die Vorgehensweise im Todesfall eines Verwandten mit zu entscheiden,
z.B. ob der Verstorbene in seinem Zimmer längere Zeit aufgebahrt, oder
direkt abgeholt werden soll.
Vielleicht können im Einzelfall hierzu schon zu Lebzeiten Absprachen
getroffen und diese schriftlich festgehalten werden.
Abholung
Die Abholung ist ein sehr sensibler Moment, in dem der
Weggang des Verstorbenen erstmalig manifest wird. Es gibt verschiedene
Möglichkeiten, einen Toten zu transportieren. Wenn möglich sollte darauf
geachtet werden, dass er nicht in einem Sack weggebracht wird, dies
ist ein erschütternder Anblick.
Beerdigung, Trauerfeier
Die Ausgestaltung dieses Bereiches hängt auch sehr davon
ab, ob es nahe Verwandte gibt und wie diese sich das Abschiedsritual
wünschen und es ausfüllen.
Wenn es von Seiten der Angehörigen hierzu keine Vorgaben gibt, muss
folgendes festgelegt werden:
Wann soll die Beisetzung stattfinden?
Auf welchem Friedhof?
Welche Bestattungsform wird gewählt?
Gibt es einen Pfarrer, oder einen nichtkonfessionellen Redner, der
die Beerdigung durchführen soll ?
Auswahl von Musik und Texten, Photos, Gegenstände, die mit dem Menschen
der verstorben ist verbinden
Der Sarg oder die Urne können auch von Bewohner/innen und oder Mitarbeiter/innen
getragen werden.
Folgendes kann gemeinsam mit der Gruppe und den Angehörigen gestaltet werden:
Wo und in welchem Rahmen soll die Trauerfeier stattfinden?
Z.B. gemeinsames Kaffeetrinken mit Bewohner/innen, Angehörigen und Gästen
in der Wohnstätte.
Welche Blumenarrangements von wem, mit welchen Texten sollen bestellt
werden? Sollen alle Bewohner/innen eine Blume mit ans Grab nehmen?
Wer soll mit zur Beerdigung? Alle die wollen, niemand, der nicht will.
In welcher Form soll die Todesnachricht öffentlich gemacht werden, mit
Anzeigen oder Briefen? Todesanzeigen können zusammen mit den Mitbewohner/innen
verfasst werden.
Aushang mit einem Sinnspruch, einem Gedicht und Photo des Verstorbenen
an zentraler Stelle in der Wohnstätte.
Formalitäten
Für die notwendigen Formalitäten, wie Beantragung der
Sterbeurkunde beim Standesamt, usw. sollten die Wohnstättenleitung oder
die Angehörigen zuständig sein.
Auch das Gedenken des Menschen über die Jahre hinweg kann gestaltet
und begangen werden, in dem z.B. der Geburtstag gefeiert wird. Das Grab
könnte zu diesem Anlass besucht werden, oder ihm einfach während des
Kaffeetrinkens gedacht werden. So bleiben die Toten auch sichtbar weiterhin
Teil des Lebens.
In diesen verschiedenen Möglichkeiten des Abschiednehmens oder Gedenkens
eines Toten, kommt das Bedürfnis des Menschen zum Tragen die eigene
Machtlosigkeit und das dem Tode ausgeliefert sein, zu relativieren und
im aktiven Tun zu gestalten.
Wir bieten ein Gerüst von Möglichkeiten an, aus dem in jeder Einrichtung
intern ein eigenes Handlungskonzept nach den jeweiligen Gegebenheiten
entwickelt werden muss. Dies kann nicht halbherzig und muss mit der
Unterstützung der Leitung geschehen. Leitung muss den Mitarbeiter/innen
die Sicherheit bieten, dass sie in der Grenzsituation einer Sterbebegleitung
unterstützt und gehalten werden.
Mit dieser Grundvoraussetzung kann die Sterbebegleitung je nach Situation
und Wunsch des sterbenden Menschen an unterschiedlichen Orten und unter
unterschiedlichen Bedingungen stattfinden, beispielsweise
Begleitung in der Wohnstätte
Begleitung im Krankenhaus (wenn dies vom Sterbenden gewünscht oder medizinisch
unbedingt erforderlich ist)
Begleitung im Elternhaus
Zusammenarbeit mit einem Hospiz
usw.
Abschließende Bemerkungen
Wir betrachten unsere Seminare als Auftakt, um mit den
gesammelten Erfahrungen und Einsichten in der Einrichtung, mit den Menschen,
die dort wohnen und arbeiten einen gestaltenden Prozess zu diesem schweren
Thema in Gang zu setzen. Durch die Art der Auseinandersetzung ändert
sich der Blick für die Bewohner/innen, für die Beziehungen und den alltäglichen
Umgang miteinander.
Menschen, die ein rein wissenschaftliches oder intellektuelles Interesse
an dem Thema Sterben und Tod haben oder von uns fertige Rezepte und
Handlungsanweisungen erwarten, wollen wir enttäuschen. Wir sind der
Überzeugung, dass eine ehrliche und fruchtbare Auseinandersetzung nur
über das Anschauen und Aushalten eigener Gefühle möglich ist.
Ich komme, ich weiß nicht woher,
ich bin, ich weiß nicht wer,
ich sterb', ich weiß nicht wann,
ich geh', ich weiß nicht wohin,
mich wunderts, dass ich so fröhlich bin.
(Jaspers)
Hier und an dieser Stelle möchten wir uns bei allen SeminarteilnehmerInnen
bedanken, deren Offenheit und Vertrauen für uns die Grundlage bildet,
auf der wir uns und unser Konzept ständig weiter entwickeln.
Martina Zabel (Dipl.-Pädagogin, Supervisorin DGSv)
Yvonne Knedlik (Dipl. Sozialpädagogin)